Carl Gustav Jung, ein Schweizer Psychiater (1875-1961), gilt als der Begründer der analytischen Psychologie. Er definiert Extraversion als Präferenz für das direkte Erlebnis mit Menschen und Dingen, Introversion als Präferenz der inneren Welt mit Auseinandersetzung der Bedeutung der Erlebnisse und interpretierender Erfahrung.
Stille Kinder haben nicht das Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen - persönliche Interaktion ist ihnen wichtiger.
Introvertierte Menschen sind deutlich in der Unterzahl. Tatsächlich sind schätzungsweise 75 % der Menschen extrovertiert. Deshalb fühlen sich die sogenannten "Intros" oft anders. Sie sind gerne alleine und haben es gerne ruhig. Stille Kinder haben meistens eine oder mehrere spezielle Begabungen, denen sie sich widmen. Sie lieben es, sich kreativ auszuleben, indem sie schreiben, malen, zeichnen, tanzen, musizieren, singen oder ihren tiefen Gefühlen anderweitig Ausdruck geben. Da sie in dem was sie tun, besonders gut sein möchten, investieren sie viel Zeit in ihre Interessen. Nachgewiesenermaßen sind viele "Intros" überdurchschnittlich intelligent. Manche saugen Wissen wie ein Schwamm auf oder sie lesen leidenschaftlich gerne. Oft überlegen und durchdenken sie lange, bevor sie etwas sagen. Besonders wichtig ist es für diese Kinder, viel Zeit für sich zu haben um ihren Gedanken und Ideen nachzuhängen und Erlebtes zu verarbeiten, zu reflektieren und zu ordnen. Zu den wissenschaftlich gut belegten und oft angeführten Stärken gehören Vorsicht, analytisches Denken, Konzentration, Beharrlichkeit und ein hohes Einfühlungsvermögen.
Bis vor einigen Jahren galten die Eigenschaften stiller Menschen oft als Schwäche, Schüchternheit oder Empfindlichkeit. In einer Gesellschaft, die Extraversion, also die Fähigkeit zur Geselligkeit und Selbstdarstellung zum Ideal erhebt, wird ein ruhiges Temperament häufig abgewertet oder pathologisiert.
So haben Introvertierte oft das Gefühl, dass ihre Eigenarten eher Defizite sind.
Zum Glück verändert sich die Wahrnehmung langsam: Zahlreiche Sachbücher und Studien heben die Stärken der leise Menschen hervor. Prominente wie Bill Gates bekennen sich zu ihrer Introversion. Ebenso der Schauspieler Matthias Brandt, der sich im Rückblick auf seine Kindheit als "sehr schüchternen Jungen" beschreibt und sich in seiner Arbeit bis heute als jemand sieht, der sich eine Rolle langsam und systematisch erarbeitet, statt spontan drauf loszulegen.
"Es findet ein Prozess der Bewusstwerdung statt", sagt die Kommunikationstrainerin Sylvia Löhken, Autorin des Sachbuchs Leise Menschen - starke Wirkung ( Piper2015). Immer wieder erlebt Löhken in ihren Beratungen, dass Introvertierte mittlerweile mehr glauben können, dass sie vielleicht doch normal sind - obwohl sie nicht gerne mit Fremden reden und lange Meetings oder laute Partys nicht gut aushalten.
"Aus dieser Sichtweise fällt es Introvertierten oft leichter, ihre Eigenarten anzunehmen - und für sich zu nutzen", sagt Löhken.
Aus Forschungen weiß man, dass das Temperament nicht durch Erziehung geprägt wird. Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal und ist genetisch festgelegt. Jens Asendorpf von der Humboldt-Universität zu Berlin forschte zu dem Thema und sagt, dass Persönlichkeitseigenschaften lebenslang weitestgehend stabil sind. Temperament ist also kaum veränderbar. "Es geht daher um Selbstakzeptenz", rät Asendorpf. Es ist also nicht sinnvoll, sich selbst
zu einem Vielredner umerziehen zu wollen und sich zur Geselligkeit zu ermahnen.
Neurowissenschaftliche Studien zeigen, wie fest verankert das stille oder laute Temperament ist. Die Psychologin Debra Johnson von der Universität Iowa untersuchte die Gehirndurchblutung bei introvertierten und extrovertierten Menschen. Sie stellte fest, dass die Gehirne bei Introvertierten insgesamt stärker durchblutet sind und eine höhere Aktivität aufweisen. Bei Introvertierten fließt das Blut außerdem durch viele unterschiedliche Hirnareale, vor allem solche, die mit Planung, Gedächtnis und Problemlösen zu tun haben. Bei Extravertierten sind dagegen verstärkt Bereiche durchblutet, in denen akustische, visuelle und andere Sinneseindrücke verarbeitet werden.
Diese Studie untermauert nochmal die Vermutung, dass Introvertierte intensiver denken, mehr Informationen einbeziehen und dass ihre Denkprozesse längere Schleifen im Gehirn ziehen. Extrovertierte denken dagegen knapper und schneller.
Diese Erkenntnisse bilden ab, was viele stille Menschen empfinden: Sie denken gerne tief und gründlich über gestellte Fragen nach und können nicht sofort antworten.
Wie introvertierte Kinder und ihre Eltern lernen, ihr Temperament zu akzeptieren
Stille Kinder fühlen sich verletzt, wenn ihre Persönlichkeit nicht verstanden und anerkannt wird. Ihre Art wird oft missverstanden, falsch gedeutet und nicht wertgeschätzt. Kinder scheinen mit ihrem Temperament oft auf besonders große Widerstände zu stoßen.
Stille Kinder sind nicht unbedingt schüchtern oder unsozial. Erst wenn klar ist: "Ich bin ein Intro und das ist gut so", können sie ihre Stärke nutzen und so sein, wie sie sein möchten. Damit sich Ihr Kind in seiner Haut wohl fühlen kann, braucht es Unterstützung und das Verständnis seines Umfeldes.
Sie sollen Ihr Kind nicht "umerziehen", wenn es in Wahrheit so viele Talente zu bieten hat. Erkennen und wertschätzen Sie als Eltern die Persönlichkeit Ihres Kindes, so kann es das auch tun und viel Kraft daraus schöpfen - und die ruhige Art kann sogar zu einer Stärke werden, die auch bei anderen Anerkennung findet.
Wenn Menschen lernen zu wissen was ihnen gut tut, und zu ihren Bedürfnissen stehen, treffen sie dann auch eher auf Akzeptanz in ihrer Umgebung.
Stille Menschen haben oft die Fähigkeit, sich sehr gut zu reflektieren, sie können sich selbst viele Fragen stellen und sie verspüren den Drang nach Weiterentwicklung. Druck auf introvertierte Kinder auszuüben, erzeugt oft das Gegenteil: Sie verschließen sich oder resignieren sogar.
Sie können ihre Stärken weiterentwickeln, indem sie etwas tun, worin sie gut sind! Introvertierte besitzen die Stärke, selbstständig und unabhängig zu arbeiten. Glauben und vertrauen Sie den Stärken Ihres Kindes!
Susan Cain bekam nach ihrem Bestseller "Still" unzählige Briefe, in denen eine Leserin schrieb: "Hätte ich das alles doch schon gewusst, als mein Kind noch zur Schule ging!" Die Autorin hat deshalb ein Buch speziell für Kinder und Jugendliche für den Umgang mit ihrem leisen Temperament geschrieben:
"Still und Stark. Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher" (Goldmann, München 2017).
Nicht selten höre ich das Anliegen und die damit verbundenen Sorgen von Eltern in meiner Praxis: Mein Kind beteiligt sich nicht genügend im Unterricht.
Es fällt ihm schwer schnell genug auf Fragen zu reagieren. Es fühlt sich von Lehrern und Mitschülern missverstanden. Es kommt nicht genug aus sich heraus und kann nicht zeigen, was alles in ihm steckt.
Inzwischen gibt es Beratungsstellen und Hilfen für Hochsensible Menschen. Auch ein LernCoaching kann sehr hilfreich sein, die eigenen Stärken und Potentiale zu entfalten und das Selbstbewusstsein zu stärken.